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Mein Geburtsort liegt an der Ostküste Südindiens, wo der Godavarv-Fluss in die
Bucht von Bengalen mündet. Mein Vater war ein Dorfschullehrer und gehörte noch zu jener
Generation, die nicht nur versuchte, den einfachen Dorfbewohnern Lesen und Schreiben
beizubringen, sondern die sich auch um ihr geistiges Wohlergehen kümmerte. |
Schöne Natur |
Ich betrachte es als besonderes Glück, an einem Ort geboren zu sein, der sowohl
wegen seiner landschaftlichen Schönheit als auch wegen seiner reichen Kunstschätze
gerühmt wird. Strahlender Sonnenschein das ganze Jahr hindurch, farbenprächtige Blumen
und reichtragende Obstbäume, hochaufragende Kokospalmen an den Ufern des Godavary, der
sich in viele Verzweigungen aufteilt, bevor er in das Meer mündet, die Fischer und ihre
Netze, ihre Holzboote, die Lieder, die sie bei der Arbeit singen, und ihr Brauchtum - all
dies sind bleibende Eindrücke meines Lebens, Erinnerungen, die immer wieder in meinen
Träumen aus den tieferen Schichten meiner Seele aufsteigen. Selbst lange Jahre des
Stadtlebens, des Reisens und Studiums vermochten nicht, diese Erinnerungen auszulöschen. |
Reiche Kunstschätze |
Indien ist an Kunstschätzen nicht weniger reich als an landschaftlicher
Schönheit. Im Telugu-Land weisen die darstellenden Künste, die mündlich überlieferte
Literatur, die Liedkunst, Tanz und Theater auf eine vielhundertjährige Tradition zurück.
Insgesamt kennt man dort 64 verschiedene "Künste", zu denen man allerdings auch
so extravagante Fertigkeiten zählt wie die Jagd oder das Glücksspiel. Immerhin rechnet
man 16 zu den sogenannten"schönen Künsten". |
Faszination der Malerei
und Plastik |
Davon zogen mich schon in frühester Jugend besonders die Malerei und Plastik an,
ebenso der Tanz und das Lied. Man erzählte mir schon als Kind von den Wandmalereien, den
Steinfiguren und Friesen der Höhlentempel von Ajanta und Ellora, von den grossartigen
Skulpturen in den Tempeln von Elephanta und Mahabalipuram, die in den gewachsenen Felsen
gehauen sind. Ich hörte bereits früh von den Mahavir-Geschichten der Jains, auf
Palmblätter geschrieben und mit Bildern illuminiert, und ich sah einige der besten
Miniaturen der Deccan-Schule. In jungen Jahren lernte ich die Aquarell-Maler der
"Delhi-Schule", die sogenannte "neo-bengalische Schule" und die
"Andhra"-Künstler wie D. Ramarao kennen, der auf dem Höhepunkt seines Ruhmes
in jungen Jahren starb. Von grossen Künstlern wie ihm, von den schon damals bedeutenden
Kunstrichtungen und -schulen träumten die jungen Menschen in jener Zeit. |
Begeisterung für unsere
Kultur |
Als ich mit dem Studium begann, konnte man eine neue Welle nationalen Stolzes
beobachten, eine wieder aufbrechende Begeisterung für unsere alte Kultur, die sich in
vielen literarischen Zeugnissen und in der Wiederbelebung des Volksliedes und dem ganzen
Reichtum der Volkskunst manifestierte. Diese Woge der Begeisterung riss uns förmlich mit
wie die Flut, die am Morgen den Strand überspült und eine frische Brise über die Küste
treibt. Viele junge Leute versuchten sich als Dichter und Dramatiker. |
Blütezeit des Dramas |

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In den vierziger
Jahren, als ich ein junger Student war, erlebte das moderne Telugu-Drama (Prosa-Einakter)
eine Renaissance, und einige der besten, kurzen sozialkritischen Dramen über
zeitgenössische Probleme entstanden in dieser Zeit, aufgeführt von Laienschauspielern.
Einige Titel, die Namen ihrer Autoren und sogar ganze Passagen, die wir auswendig lernten,
als wir die eine oder andere Rolle in diesen Stücken übernahmen, tauchen sofort in
meiner Erinnerung auf, wenn ich an diese Zeit denke. |
[<< "Poorna Kumbh" bedeutet
eine gefüllte Schale
oder ein übervoller Topf, Symbol des Wohlstandes.] |
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Musik und Tanz - Künste
mit langer Tradition |
Wenn man die Entstehung der verschiedenen alten indischen Künste verfolgt,
stösst man auf eine lange und reiche Entwicklungsgeschichte. Die Anfänge der einzelnen
Künste liegen dabei vielfach im Dunkeln. Das gilt besonders für die Musik und die
Tanzkunst. So lässt sich heute beispielsweise nicht mehr feststellen, wann Bharata das
Buch "Natyasastra" geschrieben hat. Jahrhundertelang lernte man es auswendig,
und man entwickelte für den sogenannten "Bharata Natyam", wie der klassische
indische Tanz heute genannt wird, eine ausgefeilte Choreographie. Die darin festgelegten
rhythmischen Bewegungen und komplizierten "Mudras", also jene charakteristischen
und bedeutungsvollen Gesten, Schrittfolgen, Arm- und Handpositionen, stellen heute eine
sorgfältig bewahrte und gepflegte Kunst dar. |
Farbenprächtige
Volkstänze |
Ausser dem Bharata Natyam gibt es viele Arten des Volkstanzes, die ihren Ursprung
in den verschiedenen Regionen Indiens haben. Der Kuchipudi-Tanz aus Andhra, der Kathakali
aus Kerala, der Bhangda-Tanz aus dem Punjab, der Odissi, der Manipun und die westindischen
Tänze - sie alle sind typische und eigenständige Kunstformen. Sie bilden einen
wertvollen Teil unseres kulturellen Erbes und lassen das ganze Spektrum kultureller
Eigenständigkeit aufleuchten, das so farbenprächtig ist wie Pfauenfedem.
Niemand, der in einem an Kunst so reichen Land geboren ist, kann sich einer solch
prägenden Kraft völlig entziehen, die von der täglichen, oft nur beiläufigen Begegnung
mit Kunst im weitesten Sinne ausgeht. Während man im Betondschungel moderner Städte
erstickt am Lärm der Maschinen, an den Abgasen der Fabriken und der Schwüle schmutziger
Vorstädte, kommt man sich in meinem Heimatland vor, als atme man geradezu den gesamten
Reichtum landschaftlicher und künstlerischer Schönheit wie duftende Frische in tiefen
Zügen ein. |
Kunst und Religion |
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"The
Mandela" |
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To
the centre, to the centre
to the heart of the Mandela
my soul flies. Into the silence
of the mothers womb
to the bosom of the one
who gave me birth
to the stillness and the peace
of the speechless regions
to the silent communion
of the alone with the Alone
my sol flies. |
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In Indien
ist wie in vielen anderen Ländern auf der Welt die Kunst ganz eng mit der Religion der
Menschen verbunden. Man kann sogar sagen, dass es in Indien keine eigentlich weltliche
Kunst an sich gibt. Alles künstlerische Schaffen ist sowohl mit dem Alltagsleben als auch
mit dem Streben des Menschen nach Höherem verbunden, und die Trennungslinie zwischen
Profanem und Religiösen ist sehr dünn, beide Bereiche gehen oft in einander über. Der
erste Musikunterricht beispielsweise, den ein Kind erhält, ist das Erlernen eines
Bittgesanges an die Göttin des Wissens, Saraswathi, und an den elefantenköpfigen Gott
Vinayak, der, so glaubt man, alle Hindernisse aus dem Weg des Menschen räumen kann. Das
lernt also bereits ein Kind in seinen ersten Musikstunden unabhängig davon, welcher
Religion es angehört. |
Tanz und Tanzdrama |
Der Tanz, um ein anderes Beispiel zu nennen, ist mit Shiva verbunden, einem Gott
der dreifaltigen Gottheit des Hinduismus, und er ist ein Abbild des "kosmischen
Tanzes", der immer wiederkehrenden Schöpfung und Zerstörung. Die meisten Tanzdramen
in den unterschiedlichen Sprachen der verschiedenen Regionen Indiens haben als Thema
Geschichten aus der Welt der Götter, ihrer Menschwerdung und ihrer Taten auf Erden. Die
Künstler, die die Geschichten von "Bhagavan" (Gott) in Lied- und Tanzform
erzählen, nennen wir "Bhagavathars", d. h. wörtlich übersetzt ,Erzähler von
Gottes-Geschichten'. |
Der Kuchipudi-Tanz |
Wo ich geboren bin, gibt es ein Dorf namens Kuchipudi, das eine besondere
Tanzform entwickelt hat, benannt nach diesem Dorf. Der Gründer dieses Tanzes hat alle
männlichen Mitglieder von Bramanen-Familien in der Kunst dieses Tanzes unterwiesen und
ihnen befohlen, ihr Wissen von Generation an Generation weiterzugeben. Auf diese Weise ist
die Tradition dieses Tanzes schon über 200 Jahre lang gepflegt worden. |
Heiliges Handwerk der
Tempel-Künstler |
Der reiche Figurenschmuck unserer Tempel und die Wandmalereien erzählen
ebenfalls die Geschichten von Göttern und Göttinnen. Die Künstler, die diese Figuren
und Bilder herstellten, gaben ihr Wissen und ihre Fertigkeit als Erbe an ihre
nachfolgenden Generationen weiter, so dass ihr Beruf als ,Tempelkünstler', ein heiliges
Handwerk, in derselben Familie blieb. Stella Cramrisch hat treffend formuliert, dass die
vielen Götter Indiens wohl schon längst nicht mehr auf Erden wären, gäbe es nicht ihre
Abbilder in Stein und Bronce und ihre Tempel. |
Überlieferte Kunstformen
,heidnisch' |
Als die westlichen Missionare nach Indien kamen, fanden sie viel ,heidnischen
Götzendienst' vor, wie sie es nannten, und sie stempelten jene als ,unwissend' und
,abergläubisch' ab, die nicht von diesen überlieferten Kunst- und Verehrungsformen
ablassen wollten. Damals führte man westliche Bildung ein, um, wie einer der Gouverneure
der britischen Ostindien-Company es formulierte, ,eine Generation von Indem zu erziehen,
die zwar von der Gesichtsfarbe und dem Aussehen Inder, in ihren Ansichten und ihrer
Einstellung aber Europäer seien'. |
Indische Kunst immer im
religiösen Kontext |
Gleichgültig, ob die
bildenden Künste nun heidnisch waren oder zum Götzendienst missbraucht wurden, wann und
wo immer sie ihre Blütezeit erlebten, sie entstanden im religiösen Kontext. Ob es sich
um rituelle Tänze von Stammesmitgliedern handelte, um die Höhlen- und Wandmalereien der
Ureinwohner oder die Tätowierungen, mit denen die Männer mancher Völker ihre Körper
verzierten, oft standen rituelle und religiöse Vorschriften und Überzeugungen dahinter.
Wenn die Menschen etwa tantrische Muster und magische Figuren auf den Boden vor ihren
Häusern zeichneten, dann wollten sie damit die bösen Kräfte überwinden und die guten
Geister der Natur besänftigen und ihren Beistand gewinnen. |
Rituelle Reinigung des
Bildhauers |
Die besten Bildhauer in Indien sind heute diejenigen, die für die Tempel die
Gold- und Silberbilder der Götter herstellen. Wenn solch ein Tempelbildhauer'
("Sthapathi") ein Götterbild herstellt, folgt er uralten
ikonographischen Vorschriften und Ritualen. Er unterzieht sich zum Beispiel einer
rituellen Reinigung, bevor er sein Werkzeug anrührt, ob er nun eine Skulptur aus Stein
oder Bronce herstellt. Er glaubt, dass das Material von göttlicher ,Macht' erfüllt wird,
wenn er es künstlerisch gestaltet und im Tempel oder an einer anderen Gebetsstätte
aufstellt. Das blosse Abbild wird dann als ein Objekt der Verehrung und Anbetung mit
,Macht' erfüllt, sobald es an seinem Platz steht. |
Geheimnisvolle Kraft der
Ikonen |
Die Ikonen von Byzanz oder die des alten Russlands sind ja auch mehr als blosse
künstlerische Artifakte. Sie sind Kultgegenstände, die man für die private Meditation
ebenso verwendet wie für Prozessionen und Gottesdienst. Auch von ihnen glaubt man, dass
sie eine geheimnisvolle und wunderbare Kraft besitzen, sobald sie als reines Kunstwerk
vollendet und dem Gebrauch im Gottesdienst geweiht sind. Deshalb fasst der
Ikonenmaler das Malen als einen Akt des Gebetes auf, als "Sadhana" oder als
,geistliche Übung'. So zündet er normalerweise erst eine Kerze an, liest seine
griechische Bibel und spricht ein besonderes Gebet, mit dem er Gottes Segen auf sein Werk
herabflehen will. Nicht zuletzt deshalb hat man früher wie heute das Malen von Ikonen den
Mönchen in den Klöstern übertragen. |